74 chemiereport.at SERVICE AustrianLifeSciences 2019.6 Für Sie gelesen Die Physik hinter den Lebensvorgängen sehen lernen Von Georg Sachs sibler Prozesse vorgestellt, die in den vergan- genen 40 Jahren entwickelt wurde und deren Quintessenz Cleri gekonnt zusammenfasst: Die Zusammenhänge zwischen mikroskopi- scher Fluktuation und Energie-Dissipation, die da gefunden wurden, legen nahe, dass ein System, das von einer externen Energiequelle angetrieben wird, mit höherer Wahrscheinlich- Fabrizio Cleri ist eigentlich Spezialist für Materialphysik. Doch als er 2006 eine Pro- fessur an der Universität Lille antrat, erhielt er den Auftrag, die bislang starren Wände zwischen den Disziplinen aufzubrechen und begann, ein Masterprogramm in Biophysik und Medizinischer Physik auf die Beine zu stellen. Damit einher ging die Aufgabe, Stu- denten schon in ihren ersten Ausbildungs- jahren mit den interdisziplinären Frage- stellungen der Biophysik zu konfrontieren. Frucht dessen war eine Einführungsvor- lesung, die das Ziel verfolgte, die elementa- ren Kenntnisse in Thermodynamik, Mecha- nik, Fluidphysik und Elektrodynamik, die die Frühsemestrigen schon mitbrachten, dafür zu nutzen, die hinter biologischen Phäno- menen stehende Physik „sehen zu lernen“. Er versucht dabei, mit einem Minimum an mathematischem und biologischem Vorwis- sen auszukommen und den Ausgangspunkt der Überlegungen direkt bei den physika- lischen Zusammenhängen zu nehmen. In „The Physics of Living Systems“ sind diese Früchte auch in Buchform erschienen. . Aufschlussreich sind etwa die Überle- gungen zu der alten Frage, ob die Entwick- lung von komplexen Strukturen im Zuge der biologischen Evolution nicht dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widerspricht, nach dem die Entropie bei spontan ablau- fenden Prozessen immer größer wird. Cleri berechnet beispielsweise, dass sich eine lebende Zelle nicht durch spontane Aggrega- tion ihrer Bestandteile gebildet haben kann, weil dies extrem unwahrscheinlich wäre (er gibt diese geringe Wahrscheinlichkeit quan- titativ an – so viel Physik muss sein). Er schätzt ab, wie viel Energie zur Bildung von biologischen Makromolekülen notwendig ist (auch hier läge die Gleichgewichtskonstante so sehr bei den Monomeren, dass praktisch kein Polymer vorläge). Diese Ausführungen sollen den Leser dafür sensibilisieren, dass es da etwas gibt, was bisher nicht berück- sichtigt wurde. Dieses „Etwas“ wird in Form der Statistischen Thermodynamik irrever- Fabrizio Cleri: The Physics of Living Systems. Springer International Publishing, Switzerland 2016 keit entlang eines Pfads evolviert, der mehr Energie aus der Umgebung entnimmt. Eine solche Route ist etwa die autokatalytische Anfertigung von Kopien einer bestimmten vorteilhaften Sequenz von Monomeren, wie man sie in der Replikation von Nukleinsäuren beobachtet. Fazit: Die Synthese energierei- cher Moleküle wird unter diesen Bedingun- gen gerade auf der Grundlage des zweiten Hauptsatzes wahrscheinlicher und nicht unwahrscheinlicher. Die Mechanik von Membranen, Knorpeln und Sehnen Ein anderes interessantes Beispiel sind die Betrachtungen, die über die mechani- schen Eigenschaften von Biopolymeren und Membranen angestellt werden. Auf der Grundlage statistischer Modelle von Poly- merketten werden die speziellen elastischen Eigenschaften von Proteinen besprochen und mit entropischen Triebkräften in Zusam- menhang gebracht. Ebenso erklärt der Autor Elastizität und Krümmung biologischer Membranen mithilfe eines Modells minima- ler freier Energie. Diese Modellvorstellun- gen werden mit dem Wissen in Beziehung gebracht, das mit neueren experimentellen Techniken wie Rasterkraftmikroskopie oder optischen Pinzetten über das Verhalten ein- zelner Moleküle erarbeitet wurde. Schreitet man in der mechanischen Beschreibung auf Betrachtungsebenen größeren Maßstabs voran, wird die Kontinuumsmechanik ein nützliches Hilfsmittel. Der Autor benützt aus der Werkstofftechnik bekannte Beziehungen (wie die Relation zwischen Spannung und Dehnung) und überträgt sie auf biologische Gewebe und Materialien, um deren auffällige viskoelastische Eigenschaften hervorzustrei- chen. Das so erarbeitete Instrumentarium wird in einem eigenen Kapitel auf Knorpel, in einem anderen auf Sehnen angewandt. Ein abschließendes Kapitel, das sich „Die versteckte Mathematik lebender Systeme“ nennt, stellt die Frage, wie Gestalt und Größe von Lebewesen miteinander in Beziehung stehen, und führt so in die Welt der Skalie- rungsgesetze ein. Wer also wissen will, wie die Tiere der Kreidezeit bei vergleichbaren Körperformen mit ihren beträchtlich größe- ren Massen umgegangen sind, der sei auf die quantitativen Beschreibungen dieses Sach- verhalts im vorliegenden Buch ver wiesen. ÖAKÖAK Ö s t e r r e i c h i s c h e Auflagenkontrolle ÖAK geprüfte Auflage 2018 Durchschnittsergebnis pro Ausgabe: • Verbreitete Auflage Inland 9.021 Ex. • Verbreitete Auflage Ausland 408 Ex. • Druckauflage 9.519 Ex. Impressum Chemiereport.at – Österreichs Magazin für Wirtschaft, Technik und Forschung. Internet: www.chemiereport.at • Medien- inhaber, Verleger, Herausgeber, Anzeigenverwaltung, Redaktion: Josef Brodacz, Rathausplatz 4, 2351 Wiener Neudorf, Tel.: +43 (0) 699 196 736 31, E-Mail: brodacz@chemiereport.at • Anzeigen- und Marketingleitung: Ing. Mag. (FH) Gerhard Wiesbauer, Tel.: +43 (0) 676 511 80 70, E-Mail: wiesbauer@chemiereport.at • Chefredaktion: Mag. 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